17
Wofür hat man Freunde?
»Rosie? Wird auch Zeit, dass du drangehst. Ich habe mir schon überlegt, ob du dir vielleicht beim Duschen die Hüfte gebrochen hast und nun im Seifenschaum daliegst.«
Ich werfe einen Blick auf die Uhr und versuche, mich zu erinnern, welcher Tag heute ist. Warum weckt Marcie mich am Wochenende morgens? Na gut, mittags. Missmutig setze ich mich auf. Die Sonne, die durch die Schlitze meiner Jalousie strömt, blendet mich. »Was ist denn, Marcie?«
»Komm mir nicht so. Du kannst dir doch denken, dass ich mit deiner Mutter gesprochen habe. Du hast zum Kotzen ausgesehen, als du gestern das Büro verlassen hast. Tatsache ist, dass du auch schon zum Kotzen aussahst, als du kamst. Deine Schuhe haben nicht zu deiner Handtasche gepasst! Ich hatte Angst, dass du nach Hause gehst und den Kopf in den Ofen steckst. Ich hätte dich auch noch gestern Abend angerufen, aber Seanie hat mich zu unserem Jubiläum ausgeführt.«
»Was für ein Jubiläum?«
»Es ist genau sechs Monate her, dass wir es zum ersten Mal gemacht haben.«
»Du veräppelst mich, oder?«
»Nein. Manche Leute feiern den Tag, an dem sie sich kennengelernt haben. Wir feiern den Tag, an dem wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Das ist schließlich viel romantischer. Aber darum geht es jetzt nicht. Sondern darum, dass du in letzter Zeit aussiehst wie eine Psychopathin, und wir hatten noch keine Gelegenheit, miteinander zu reden.«
Ich klettere aus dem Bett und schlinge den Bademantel um mich, den Telefonhörer noch immer am Ohr. Ich bin versucht, Marcie einfach zu sagen, dass alles okay ist. Ist es aber nicht. Und es strengt mich an, ständig so zu tun, als wäre es das. Vielleicht sehe ich deshalb mittlerweile aus wie eine Psychopathin.
»Aber wie dem auch sei«, sagt sie zu mir, während ich zwischen Schlaf- und Esszimmer pendle und ziellos nach einem annehmbaren Grund dafür suche, warum ich wach bin. »Ich komme in zwanzig Minuten vorbei, um dich abzuholen. Dann fahren wir zu mir, und da werden wir jede Menge Pasta und Eis essen und literweise Wein trinken, reden, lachen und über unsere Kollegen lästern.«
»Ich kann nicht …«
»Du kannst und du wirst. Sogar Ham hält das für eine gute Idee.«
»Du hast mit Mickey gesprochen?«
»Ich bin ihm im SaveWay über den Weg gelaufen. Wo sonst hab ich wohl die Pasta her?«
Statt den Stuhl am Esstisch nur anzustarren, setze ich mich darauf. Es ist derselbe, auf dem Helen vor einer Woche gesessen hat, um mir zu erzählen, dass mein Vater ein Penner war und meine Mutter mich, ohne eine Sekunde zu zögern, zurückgelassen hat. Ich lehne mich auf dem Großmutterstuhl zurück. Mir fehlt die Energie zum Streiten. In irgendeinem Winkel meines Herzens berührt es mich, dass Marcie genug an mir liegt, um an ihrem Sechsmonatsjubiläum mit ihrem Chef ein Treffen unter Frauen zu arrangieren.
»Zieh dich an!«, sagt sie. »Ich bin schon unterwegs.«
Doch sie kommt nicht allein. Sean ist dabei. Sean, den ich noch nie außerhalb seines Büros getroffen habe. Wie überrascht bin ich, als ich meine Tür aufmache und ihn in ausgebeulten Jeans und einer Schirmmütze mit Yankee-Aufdruck vor mir stehen sehe! Sean Zambutos Kopf ist nicht für Schirmmützen mit Yankee-Aufdruck gemacht. Er hat die Form einer Kidney-Bohne. Es ist der Kopf des Mannes, der die Abteilung für Sozialarbeit leitet.
Er hat die Hände in die Hosentaschen vergraben, den Kopf leicht vorgebeugt und lächelt mich an. »Roseanna«, sagt er in dem gleichen höflichen Tonfall, den er auch bei unseren Besprechungen benutzt. Er zieht eine Hand aus der Tasche und streckt sie mir hin. Ich habe ihm nie zuvor in einer karierten Schlafanzughose die Hand gegeben. Ich komme mir blöd vor in meinen billigen, nachgemachten Ugg-Boots aus dem Discounter.
»Seanie«, befielt Marcie, »schnapp dir ihre Handtasche.« Sie umarmt mich. Meinen Mantel hält sie bereits im Arm. »Los geht’s«, sagt sie, und ich gehorche stumm und erlaube ihr, mich aus meiner leeren Wohnung auf die Rückbank des vorgewärmten Big Red zu verfrachten.
»Bring uns direkt zu mir nach Hause, Seanie«, befiehlt Marcie, kaum dass wir uns angeschnallt haben. Seanie verlässt den Parkplatz vor der Anlage. Marcie vertieft sich sofort in die Behandlung.
»Roseanna«, sagt sie und macht einen auf Therapeutin – sie atmet tief durch und stellt Blickkontakt her. »Unsere Mission für heute lautet, dir so viel Normalität zu bieten, dass du erkennen kannst, wie unbedeutend diese Neuigkeiten von deiner Mutter in Wirklichkeit sind.«
»Sie ist nicht meine Mutter.«
Marcie wischt diese Überlegung mit einer Handbewegung beiseite. »Ja, eine wahnsinnig große Sache. Hol am besten gleich deine Zoloft-Pillen raus.« Ich sehe im Rückspiegel, wie Sean die Augenbrauen hochzieht. Das erinnert mich an Pulkowski.
»Sie hat dir alles erzählt, stimmt’s?«, frage ich.
»Ich habe sie angerufen. Am Freitag. Als du mal wieder zum Kotzen aussahst. Wir haben bei ihr zu Hause einen Kaffee getrunken. In deinem Zuhause also. Oder dem Zuhause deiner Großeltern.«
Ich reibe meine Schläfen. Ich bin noch nicht bereit, meine Geschichte mit anderen zu teilen. Mickey reicht. Er war gut zu mir und hat keine Fragen gestellt. Er hat eine Menge Fleisch für uns zubereitet, als würde das helfen. Doch ich bin vollkommen in meinen Gedanken versunken, egal, ob nun etwas im Ofen brutzelt oder nicht. Nach der Arbeit liege ich jeden Abend im Bett und ignoriere ihn. Stattdessen versuche ich, mir vorzustellen, aus wessen Bauch ich gekommen bin, als meine Knochen vollständig, meine Finger einzeln ausgebildet waren und meine Beine stark genug, um gegen den Magen einer Frau zu treten, die ich nie gekannt habe. Ich wende Mickey und seinen Braten den Rücken zu; meine Besessenheit in den vergangenen zwei Wochen ist meine ganz private Hölle gewesen, und ich habe sie für mich behalten und mit geradezu masochistischer Begeisterung gehätschelt.
Marcies Mund hat aufgehört, sich zu bewegen, und wir alle schweigen Gott sei Dank für einen Augenblick. Das Klack, Klack, Klack der Blinker des Big Red ist das einzige Geräusch im Wagen. Helen muss sich dieselben Fragen stellen wie ich. Etwa: Was ist aus Alexa Pulkowski geworden? Was hat sie mit ihrer Honor-Society-Mitgliedschaft angefangen?
»Du bist von einer wunderbaren Mutter großgezogen worden«, sagt Marcie nach einer Weile. »Sie leidet wirklich, Rosie.«
Gut, denke ich, sage aber nichts.
»Deine Kleidung war immer sauber, genau wie du. Niemand hat dich je geschlagen. Du warst auf dem College.«
War meine wirkliche Mutter je auf dem College? Wo lebt sie jetzt? Lebt sie überhaupt noch? Wie hatte Helen die Spur eines sechzehn Jahre alten Mädchens verlieren können?
»Du bist in einem intakten Heim mit beiden Elternteilen aufgewachsen, und das zu einer Zeit, als mehr als die Hälfte aller amerikanischen Familien aus Alleinerziehenden mit ihren Kindern bestand.«
Ich rutsche ein Stück näher ans hintere Fenster, als würde ich glauben, dass das Marcie vom Reden abhält. Tut es aber nicht.
»Jetzt«, seufzt sie, »kommen wir mal zu deiner Ehe.« Sie wirft unserem Fahrer einen kurzen Blick zu. »Seanie! Stell deine Ohren auf Durchzug.« Ich sehe Seans verschämtes Grinsen im Rückspiegel.
»Also. Dein Mann war ein Affenarsch.«
»Ich dachte, du hättest gesagt, er sei ein Arschgesicht«, widerspreche ich.
Wieder winkt sie ab. »Egal. Eine von zwei Ehen in diesem Land endet innerhalb der ersten vier Jahre mit einer Scheidung. Innerhalb der ersten vier Jahre!« Ihre Augen verengen sich hinter der dicken schwarzen Brille. »Du hast es also ziemlich gut getroffen.«
Ihr lächerlicher Kommentar reißt mich kurzzeitig aus meiner wie in Watte gepackten Benommenheit. »Willst du damit sagen, meine Ehe ist in statistisch angemessener Weise in die Brüche gegangen?«
»Jetzt werd’ nicht zynisch«, sagt sie. »Alles, was ich sagen will, ist, dass das Scheitern deiner Ehe nichts besonders Ausgefallenes war. Du bist damit nicht bemerkenswerter als Helen, die es geschafft hat, über ein halbes Jahrhundert mit einer Sphinx verheiratet zu sein.«
»Wie überaus tröstlich«, versichere ich ihr.
»Das hoffe ich.« Marcie seufzt zufrieden.
Wir halten in der Einfahrt ihres gemieteten Hauses, das dem von Inga recht ähnlich sieht. Es macht mich traurig.
»Nachdem wir über all diese bedrückenden Dinge gesprochen haben«, verkündet Marcie, »werden wir drinnen die Sau rauslassen.«
»Ich würde lieber nach Hause gehen und mich ausruhen.«
»Quatsch. Lieber würdest du dich unter einer Decke verkriechen und sterben. Und das ist absolut nicht akzeptabel.«
»Dann schlafe ich womöglich hier ein.«
»In Ordnung«, sagt Marcie. »Aber das bezweifle ich. Ich habe nämlich ein superleckeres Eis da drin.«
Sean hält uns die Tür auf wie ein guter Chauffeur, dann trägt er meine Sachen hinein. Er geht voran, und meine Plüschpuschen mit Leopardenmuster wippen oben auf der Tasche.
»Ist er nicht großartig?«, schwärmt Marcie, und ich bin einmal mehr verblüfft darüber, was für eine Anziehung diese stillen Typen auf gewisse Frauen haben. Gerade hat sie Pulkowski als Sphinx bezeichnet, und in der nächsten Sekunde behauptet sie, Sean Zambuto wäre großartig.
»Er wohnt jetzt hier«, gesteht Marcie mir, als ich in meinen Billig-Boots neben ihr herschlurfe. »Mein kleiner Zambie, mit dem ich den Briefkasten teile.« Sie seufzt und dreht sich mit verändertem Gesichtsausdruck zu mir um. »Wo lebt eigentlich Ham?«, fragt sie.
»Irgendwo in Manhattan.«
»Warst du noch nie da?«
Ich schüttele den Kopf, und zum ersten Mal wird mir bewusst, dass ich Mickey noch nie gebeten habe, mich dorthin mitzunehmen.
»Und er fährt jeden Tag auf die Insel und zurück?«
»Früher vermutlich schon. Jetzt bleibt er meistens in Ronkonkoma.«
»Also lebt dein Freund eigentlich auch bei dir.«
Ich zucke die Achseln. »Irgendwie schon.«
Gegen drei Uhr haben wir, jede von uns in eine Sofaecke im Wohnzimmer gekuschelt, mehr als eine Flasche Wein getrunken.
Sean ist unauffindbar. Wir haben uns SpongeBob Schwammkopf angesehen und eine DVD mit ein paar Folgen von Family Guy. Wir haben eine Packung süßer Frühstückspoppys verdrückt, eine Schale mit grünen Weintrauben und eine Runde Chicken Wings, die irgendwann am Nachmittag auf magische Weise von Sean auf den Couchtisch gezaubert worden waren.
»Seanie!«, ruft Marcie jetzt über das Geplärre eines Werbespots hinweg, »geh und kauf uns noch mehr Wein, Liebling!«
Seanie taucht bereits mit Mantel aus seinem neuen Arbeitszimmer auf, umrundet das Sofa, um von Marcie einen Kuss zu empfangen, geht dann zur Haustür und verschwindet.
»Er ist ja so süß«, säuselt Marcie, und ich kann mir einen Kommentar nicht verkneifen.
»Er ist sicher ganz nett«, setzt die Dreiviertelflasche Wein an, »aber er ist einundvierzig, war nie verheiratet und nimmt Befehle entgegen wie ein Kellner.«
»Und worauf willst du hinaus?«, fragt Marcie mit breitem Grinsen.
»Du könntest jeden haben, Marcie …«
»Habe ich auch, glaub mir.«
Ich lasse das eine Minute auf mich wirken, während ich auf einem kalten Chicken Wing herumkaue. »Meine wirkliche Mutter war in der National Honor Society«, sage ich ins Blaue hinein.
»Oh, den Typ Mädchen kenne ich«, lässt Marcie verlauten und zwirbelt an einer zweifarbigen Haarsträhne. Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung für meine Mutter ist.
»Und was ist mit dir? Was für ein Typ warst du?«
»Was glaubst du?«, fragt Marcie. »Cheerleader natürlich. Jetzt sag nicht, dass dir das nicht aufgefallen ist. Ich habe Cheerleader-Gene, und du hast Honor-Society-Gene.«
Vielleicht liegt es am Wein, aber das ergibt einen Sinn für mich.
»Ich bin rumgehopst, habe Rad geschlagen und bin von Pyramiden aus anderen Cheerleadern gesprungen, und dafür haben sie mich geliebt, ja, angehimmelt.«
Ich muss nicht mal fragen, wer. Alle haben sie geliebt und sie angehimmelt. Das ist das Schicksal des Cheerleaders. Marcie nestelt am Saum ihrer Scooby-Doo-Schlafanzughose. »Ich bin mit jedem Jungen, den ich wollte, ausgegangen«, sagt sie. »Mit dem Captain des Football-Teams. Einem Ringer. Einem Studenten, der als Lehrer gejobbt hat und Edward X. Wilson hieß. Das mussten wir geheim halten. Sein zweiter Vorname war Xavier, und er war nicht beschnitten. Er war aber auch nicht anders als die anderen. Alle haben sie mir in die Augen geblickt und dabei an meinen Schritt gedacht. Ich war das Mädchen, das im kurzen Faltenröckchen Spagat gemacht hat. Mehr haben sie in mir nicht gesehen – blonde Haare und den Schritt.« Abwesend nimmt Marcie einen Schluck aus der leeren Weinflasche. »Irgendwann langweilt einen das, Rosie.«
In Gedanken kehre ich zurück zu meiner eigenen, qualvollen Zeit an der Highschool. Ich saß in meinem grobknochigen Körper auf der Tribüne, sah Mädchen wie Marcie hüpfen und klatschen und herumwirbeln und kam mir dabei so einsam und fehl am Platz und misslungen vor, dass ich später im Leben bereit gewesen war, die mangelhafte Zuneigung eines Mannes wie Teddy zu akzeptieren. Einmal hatte es einen sehr beliebten Jungen gegeben, der mich wirklich mochte, aber er konnte es nicht zugeben. Er saß in einem Kurs neben mir, der in unserer schlecht beleuchteten Schulaula stattfand, weil die Klassenzimmer von Schülern überquollen. Er gehörte zu der Art Jungen, die Marcie wie Kleenex-Tücher verbrauchte, doch für mich war er der einzige Junge, dessen Schicksal in Football-Spielen und Beliebtsein bestand und der sich trotzdem für mich interessierte. Jeden Tag ließ er sich auf den Klappsitz neben mir gleiten und lächelte in einer Weise, die seine Freude darüber, mich zu sehen, nicht verbarg. Im Schutz der schwachen Beleuchtung und der hohen Rückenlehnen erzählte er mir davon, wie unglücklich seine Mutter war, und von den Seitensprüngen seines Vaters, von seiner Angst, in Chemie durchzufallen, und seinem nachlassenden Interesse an seiner Freundin, einem Mädchen namens Marissa Olsen, die natürlich auch Cheerleader war und sogar als »Homecoming Queen« nominiert. Eines Nachmittags direkt vor Schulschluss hatte er impulsiv meine Hand genommen. »Ach, wärest du doch nur hübscher, dann könnte ich mit dir ausgehen«, hatte er gerufen. Dann war er wieder schüchtern geworden und hatte so getan, als würde er auf seinem Schoß Geometrie-Hausaufgaben machen. Ich bewahrte seinen Ausbruch für den Rest meiner Zeit an der Highschool im Herzen. Es fühlte sich an wie ein warmer, glühender Goldklumpen, den mir niemand wegnehmen konnte. Wäre ich nur hübscher gewesen, dann hätte er mich geliebt!
Die Tür geht auf und herein kommen ein Schwall kalte Luft und Sean Zambuto. Auf dem Weg zur Küche drückt er Marcies Schulter. Sie sieht mich an und sagt: »Siehst du? Der Mann liebt mich wirklich.« Sean kehrt mit einer entkorkten Flasche Shiraz zurück und verschwindet dann wieder. Wir trinken weiter.
Die Stunden vergehen, Fernsehgeräusche, Eiscreme und Nickerchen wechseln einander ab, und Marcie hält mir immer noch Vorträge darüber, dass ich mich auch außerhalb der Bestrahlungstermine mit Helen treffen sollte. Mickey taucht in genau dem Moment auf, als Seanie eine Schüssel mit dampfender Pasta auf den Couchtisch stellt. Ich sehe aus meinem Nebel auf, und da ist er, mein Koteletten tragender Kavalier. Er steht mit einer SaveWay-Tüte im Arm vor mir und lächelt beim Anblick meiner Plüschpuschen mit Leopardenmuster, von denen jede halb so groß ist wie sein verstorbener Hund Dukey.
»Na?«, sagt er. »Wie war dein Verwöhntag?«
Ich springe auf die Füße, stoße dabei fast den Couchtisch mit den Spaghetti um, und schlinge meine Arme um seinen Nacken. Er hält mich mit dem freien Arm, im anderen hat er immer noch die Tüte mit Lebensmitteln. Ich klammere mich an ihn wie ein kleiner Pavian. Irgendwie gelingt es ihm, die Tüte abzustellen. Ich versuche gar nicht erst, etwas zu sagen; das wäre nur störend. Ich bin sicher, dass er meinen Weinatem riecht und dass er mein seltsames Outfit bemerkt hat: die rosa karierte Schlafanzughose und das graue T-Shirt mit den kleinen Löchern am Saum. Er riecht so gut, nach frischer Herbstluft, einem Aftershave für alte Männer und Weichspüler. Er gehört mir. Er versucht nicht zu fliehen, wie all die anderen, oder tischt mir Lügen auf, wie manche von ihnen, oder beklagt sich über die Tatsache, dass ich nicht hübsch genug bin. Das Leben hat mir ein paar schwierige Bälle zugespielt, aber auch einen ehemaligen Metzger mit Knackarsch und einem goldenen Herzen.
»Und einem goldenen Herzen!«, plappert jemand. Anscheinend bin ich das. Anscheinend sage ich das laut, anstatt es nur zu denken. Anscheinend bin ich sehr, sehr betrunken.
»Du bist süß, wenn du betrunken bist«, flüstert Mickey mir ins Ohr, und dadurch weiß ich, dass ich ihm das mit dem Knackarsch ebenfalls gesagt habe, statt es nur zu denken.
»Wenn ich dir jetzt sage, dass ich geheilt bin, bringst du mich dann heim?«, frage ich ihn – ein bisschen zu laut und ein bisschen zu drängend.
»Klar«, sagt Mickey, »aber erst musst du etwas von dem leckeren Abendessen probieren.«
»Wer zum Teufel bist du, mein Vater oder was?«, frage ich und wechsele übergangslos von süß betrunken zu ätzend betrunken. Doch Mickey lacht nur, und Marcie wirft von irgendwo hinter uns ein: »Diese Woche verdächtigt sie wahrscheinlich so ziemlich jeden, ihr Vater zu sein.«
Das setzt ein schallendes Gelächter in einem verborgenen Winkel meines Innern frei. Ich zittere vor Lachen, biege mich vor Lachen und werde so geschüttelt, dass Marcie mich vorsichtig auf dem Sofa Platz nehmen lässt, bis es vorbei ist. Seanie mustert mich mit weit aufgerissenen Augen und besorgtem Blick, doch das beunruhigt mich nicht länger, weil er ja nur der absolut hingebungsvolle Schoßhund meiner Freundin Marcie ist. Dieser meiner Freundin hier, Marcie! Endlich gibt es eine Freundin, die sich wirklich und ernsthaft um Roseanna Plow sorgt. Nicht wie Inga, diese Abtrünnige, diese Schlampe, diese ausgemergelte Möchtegern-Dichterin, die mit meinem Mann schläft, während sie in einem hässlichen rosa Haus in Hauppauge irgendwelche Seegras-Chips futtert.
Als meine Hysterie sich gelegt hat, merke ich, wie Mickey meine Arme in die Ärmel meines Mantel steckt und anscheinend bereit ist, auf die Pasta zu verzichten und mich nach Hause zu bringen. Er bedankt sich herzlich bei Sean und Marcie für den Tag und bietet ihnen den Inhalt seiner SaveWay-Tüte im Austausch für ihre Dienste an. Dann hilft er mir mit einem starken Arm auf die Füße und schiebt mich zur Tür.
»Vergiss nicht, deine Mutter anzurufen!«, grölt Marcie irgendwo in meinem Rücken, bevor die Tür zugeht. »Sie liebt dich nämlich, weißt du.«